Kapitalismus aufheben – Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken

 


Das im Juli 2018 veröffentlichte Buch „Kapitalismus aufheben – Eine Einladung, über Utopie und
Transformation neu nachzudenken“ von Simon Sutterlütti (Soziologe, aktiv im Commons-Institut)
und Stefan Meretz (Ingenieur, Informatiker, Mitbegründer des Commons-Instituts) richtet sich an
all jene, die das Träumen nicht verlernt haben und auch das Mantra der Alternativlosigkeit zum
Gegenwärtigen nicht akzeptieren wollen.
Die Motivation zum Buch entstand den Autoren vor allem aus der Beobachtung heraus, Debatten
um gesellschaftliche Utopien fänden im öffentlichen Raum kaum mehr statt, weshalb das zentrale
Anliegen auch sein soll, große Utopien nicht nur wieder (zu) denken (zu dürfen), sondern vor allem
zur Diskussion und damit zur Weiterentwicklung von gesellschaftlich transformierenden Ideen
anzuregen.
Die Autoren selbst definieren das Ziel ihrer eigenen Utopie als eine „Freie Gesellschaft“. Also eine,
die sich einerseits von jedweder Herrschaft und andererseits von systemischen Sachzwängen befreit
hat. Im Kapitalismus handeln die Menschen erzwungenermaßen profitorientiert und damit
zunehmend auch an ihren eigentlichen Bedürfnissen vorbei, was sich letztlich in verschiedenartigen
Krisen und Entwicklungswidersprüchen ausdrückt:
„Es ist wichtig, die gesellschaftliche Vermittlung im Kapitalismus zu verstehen, weil sie den meisten
Menschen als die einzig mögliche erscheint. Sie prägt und verengt unsere Auffassungen von
Gesellschaft und Vermittlung. So können wir uns kaum vorstellen, dass so etwas komplexes wie eine
Gesellschaft von uns Menschen bewusst geschaffen werden kann. Die Qualität des Kapitalismus ist
die »unbewusste Gesellschaftlichkeit«. Sie entsteht, wenn zwei Dynamiken zusammenkommen: Die
gesellschaftliche Vermittlung stellt sich »hinter dem Rücken« der Menschen her (Selbständigkeit)
und dreht das Verhältnis von subjektiv gewollter Bedürfnisbefriedigung (sozialer Prozess) und
objektiv erzwungener Verwertung (sachlicher Prozess) um. Das Moment der Selbständigkeit, das
jeder Gesellschaft zugrunde liegt, wird im Kapitalismus zur Verselbstständigung von Sachzwängen
gegenüber den Bedürfnissen der Menschen. Wir können den Kapitalismus nicht mehr kontrollieren,
sondern dieser kontrolliert uns.“ (S.170)
Sutterlütti und Meretz arbeiten nachvollziehbar heraus, dass „Freiwilligkeit“ und „kollektive
Verfügbarkeit“ die Mindestvoraussetzungen und damit auch Grundpfeiler einer solchen „Freien
Gesellschaft“ sein müssten.
Obwohl das Buch eigentlich in sieben Kapitel gegliedert ist, lässt es sich in drei große Komplexe
unterteilen. Der erste befasst sich damit, in die Thematik einzutauchen, den Status Quo
herauszuarbeiten und die Kritik am Kapitalismus zu begründen. Zudem wird hier Stellung zu
bisherigen, historischen Versuchen zur Überwindung des Kapitalismus bezogen und auch Kritik an
aktuellen Strategien zur Transformation geübt. Schließlich laufen die allermeisten davon auf
politisch-staatliche Reformen oder einen revolutionären Umbruch durch Machterringung hinaus.
Warum beide dieser Wege nicht zielführend sein können, sondern bestenfalls hilfreich
unterstützend, wird von dem Autorenduo klar formuliert und gut begründet. Allein schon für diesen
erhellenden ersten Buchteil lohnt die Lektüre.
Den mittleren Teil des Buches widmen Sutterlütti und Meretz ihrem Hauptanliegen, nämlich den
Raum für Debatten um Utopien wiederzueröffnen. Dazu versuchen sie, eine generelle Theorie zu
Utopien zu umreißen, welche die Ziele wandlungswilliger Bestrebungen griffiger und fokussierter
machen könnte, ohne dabei ein zu konkretes Bild einer möglichen Zukunft „auszupinseln“. Ergänzt
wird diese Utopietheorie durch den Entwurf einer verallgemeinerten Theorie zu möglichen
Aufhebungsprozessen, die den Weg aus dem Gegenwärtigen ins Utopische skizzieren wollen.
Sowohl diese Aufhebungstheorie als auch die sogenannte kategoriale Utopietheorie sollen in erster
Linie anderen Denkern und Visionären Räume zur kreativen Ausgestaltung eröffnen und zur
Reflexion ihrer eigenen Ansätze einladen.
Den abschließenden dritten Teil des Buches nutzen die Autoren sogleich zur Anwendung ihrer im
Mittelteil entwickelten Theorien und stellen den Commonismus, ihre eigene kategoriale Utopie,
sowie ihre Aufhebungstheorie vor, die sie Keimformtheorie getauft haben.
Die Keimformtheorie gehe davon aus, dass das Neue im Alten bereits als Keim angelegt, jedoch
nicht dominant sei. Unter entsprechenden Vorbedingungen, die auch diskutiert werden, könnte diese
Vorform jedoch mehr Relevanz erlangen und letztlich die Dominanz erlangen.
„Eine Utopie, die das Ende von Knappheit im Zentrum hat, wird die Vorform in technischen
Entwicklungen sehen. Eine Utopie, die an zentrale Planung glaubt, wird politisch-staatliche
Vorformen suchen. Unsere Utopie findet ihre Vorform in neuen Beziehungen zwischen Menschen.“
(S.94)
Diese neuen Beziehungen würden in der Utopie des Commonismus nun bestimmt durch das
sogenannte Commoning. Dabei handele es sich um eine soziale Praxis, deren ureigenes Wesen es
ist, inkludierend zu wirken. Das heißt, dass es ohne besondere Überwindung nahe liegt, die
Bedürfnisse anderer Menschen in die eigene Handlungslogik einzubeziehen und diese zu
berücksichtigen, weil dies letztlich auch zum eigenen Vorteil würde. Damit wäre die exkludierende,
also ausgrenzende und trennende Wirkungsweise, die dem Kapitalismus systemisch innewohnt,
aufgehoben.
Mit ihren Überlegungen, Ideen und Theorien knüpfen Sutterlütti und Meretz an die Gedanken vieler
Vordenker an, auf deren Schultern sie stehen, kritisieren diese aber auch fundamental. Sie
beschreiben systemische Hebelpunkte für Veränderung, die sehr tief wurzeln und präsentieren dazu
neuartige (Denk-)Ansätze, die paradoxer- und gleichzeitig erhellenderweise bisher wenig
theoretische, dafür aber bereits viel praktische Verbreitung finden! Außerdem bereichern sie ihr
Werk mit sehr spannenden Erkenntnissen und Schlüssen, wie beispielsweise einer überraschenden
Kritik an der Notwendigkeit von Ethik oder dem Wesen von Gemeinschaften. Erscheinen diese
doch den meisten emanzipatorisch denkenden Lesern zunächst sicherlich als essentiell, entlarven
die Autoren die Herausbildung beider Bedürfnisse auf beeindruckende Weise als teils sogar
problembehaftete Symptome des Kapitalismus, die vom Commonismus mit aufgehoben würden.
Erstaunlich, was die Autoren alles in den 250 Buchseiten unterbringen, ohne ein Gefühl aufkommen
zu lassen, etwas würde wesentlich zu kurz kommen. Obwohl allein der eine oder andere Punkt
leicht weitere Bücher füllen könnte. Erreicht wird dies durch eine präzise, klare Sprache und wenig
ausschmückende Prosa. In dieser Hinsicht gelingt dem Autorenduo auch der eigentlich unmögliche
Spagat zwischen einem dem Thema angemessenen, wissenschaftlich-seriösen Stil und allgemeiner,
leichter Verständlichkeit vergleichsweise gut. Anfangs besser, dann zunehmend herausfordernder,
was wirklich Interessierte jedoch leicht verzeihen werden:
„Die hier entwickelten Begriffe muten kompliziert an. Sind sie auch. Unser Ziel ist, allgemeine
Bestimmungen für den Mensch-Gesellschafts-Zusammenhang zu gewinnen. Das Problem liegt
darin, dass wir Gesellschaft als transpersonale Kooperation nicht sinnlich erfahren. Wir können
nur ihre Wirkungen in kleinen Ausschnitten interpersonal und unmittelbar wahrnehmen. Staat,
Patriarchat, Markt erleben wir nicht unmittelbar, sondern wir erleben nur ihre Auswirkungen.
Doch die abstrakt anmutenden Worte brauchen wir, um das interpersonale Erleben zu begreifen,
indem wir es auf den Begriff bringen.“ (S.145)
Leider kann ihr Werk nicht ohne Vorbehalt als Einstieg in die Gesellschaftstheorie oder die Welt der
Commons empfohlen werden. So ist es in seiner Gesellschaftsanalyse sehr tiefgehend und äußerst
kritisch, was Einsteiger sehr fordert. Hilfreich und aufschlussreich sind jedoch die vielen
kurzgefassten und knackigen Begriffsbestimmungen, die erheblich zur Verständlichkeit beitragen
können.
Auch um erstmalig in die Welt der Commons und des Commoning einzutauchen, ist „Kapitalismus
aufheben“ vermutlich zu nüchtern, sachlich und theoretisch. Hier braucht es vielleicht eine
emotionalere, gefühlvollere, vielleicht gar praktischere Erfahrung als dieses Buch vermitteln kann
oder auch will, um eine ausgeprägte, lebendige und griffige Vorstellung dafür zu entwickeln.
Andere bereits frei erhältliche Werke zu Commons könnten dies leisten.
Dennoch haben Sutterlütti und Meretz hier etwas Wichtiges und Großes geleistet. Es wäre zu
wünschen, die Ideen und Ansätze fänden die ihnen gebührende Verbreitung und avancieren zum
Fundament für ein neues Kapitel des bevorstehenden gesellschaftlichen Wandels.
Damit ist „Kapitalismus aufheben“ eine dringende Empfehlung und essentielle Lektüre für alle, die
gesellschaftlich interessiert oder bereits transformierend engagiert sind bzw. es gern sein möchten.
Die Lektüre dient nicht nur dem Zweck, Denkräume für Utopien zu schaffen und die Utopie des
Commonismus vorzustellen, sondern auch dazu, die eigenen Überzeugungen, Bestrebungen und
Engagements besser verorten zu können. Dabei kann es vielleicht zu überraschenden
Ernüchterungen kommen oder auch die Augen öffnenden Momenten. Vielleicht gelingt es dem
Buch sogar, Hoffnungen (wieder-) zu erwecken und Mut zu machen, etwas grundlegend Neues
anzugehen, das plötzlich nicht mehr jenseits des Horizontes liegt, sondern greifbarer denn je
erscheint.
Das Buch kann käuflich erworben werden, ist jedoch auch frei unter https://commonism.us/ als PDF
downloadbar.